Europas Umwelt-Musterknabe
Letzte Chance vertan
Der Bundesrepublik droht eine Klage der EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof. Bereits am 5. Februar lief eine letzte Frist ab, die EU-Umweltkommissar Karmenu Vella der Bundesregierung gesetzt hatte, um sie zu Maßnahmen zu bewegen, die die Einhaltung von EU-Grenzwerten bei der Luftreinheit ermöglichen würden. Vella machte am 30. Januar klar, dass nur Schritte, die "ohne jede Verzögerung" die Senkung der Abgaswerte bewirken würden, einen Gang vor das oberste europäische Gericht abwenden würden. "Die EU-Kommission gibt neun Mitgliedsstaaten eine letzte Chance, bevor sie vor Gericht zieht", erklärte ein Pressesprecher der EU-Kommission. Dieser Fristsetzung ging ein Arbeitstreffen zwischen Vella und der geschäftsführenden Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) voraus, bei dem diese das Maßnahmenpaket erläutern sollte, mit dem Berlin die gesundheitsschädliche Luftverschmutzung in vielen deutschen Städten bekämpfen will. Die Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid, die 2010 EU-weit eingeführt wurden, werden in der Bundesrepublik weiterhin vielerorts deutlich überschritten.[1] Nach den Konsultationen erklärte Vella, die unterbreiteten Vorschläge seien "auf den ersten Blick nicht gehaltvoll genug, um das Gesamtbild zu verändern".[2] Die Dringlichkeit des Problems sei noch immer nicht erkannt worden. Brüssel hat bereits Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen und Bulgarien eröffnet; die Klagen gegen Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien, Großbritannien, Tschechien, Ungarn, Rumänien und die Slowakei stehen nach dem Ablauf der jüngsten Frist noch aus.
Jahrelange Passivität
In deutschen Leitmedien wurde umgehend kolportiert, die Frist, die Brüssel nun gesetzt habe, sei viel zu kurz bemessen, um wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen; sowohl Vella als auch die "Regierungen der betroffenen Staaten" wüssten dies.[3] Dabei gärt der Streit zwischen Brüssel und Berlin um die Einhaltung von Umweltstandards in deutschen Städten schon seit Jahren. Immer wieder forderte die EU-Kommission die Bundesregierung auf, das EU-Recht in Form der entsprechenden Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid einzuhalten. Zuletzt war dies Anfang 2017 der Fall; Berlin ließ aber auch die damaligen Mahnungen verstreichen. Umweltschützer stellten anlässlich der Visite von Hendricks in Brüssel klar, dass Berlin keinerlei ernsthaften Umweltschutz in den Ballungsräumen betreibe: "Frau Hendricks fährt mit leeren Händen nach Brüssel", erklärten Vertreter des Naturschutzbund Deutschland.[4]
Millionenschwere Strafzahlungen
Nach jahrelanger Passivität Berlins scheint Brüssel mit dem angekündigten Vertragsverletzungsverfahren nun ernst zu machen. Deutsche Medien rechnen angesichts der anhaltenden Luftverschmutzung in vielen deutschen Städten mit täglichen Strafzahlungen in Höhe von 400.000 Euro; hinzu kämen Nachzahlungen im Umfang von 25 bis 30 Millionen Euro.[5] Die zusätzlichen Kosten scheinen den Funktionseliten jedoch offenbar günstiger als ernsthafte Umweltmaßnahmen, die in Konflikt mit den Interessen der mächtigen deutschen Autowirtschaft gerieten.
Umweltziele breit verfehlt
Tatsächlich ist die Bundesrepublik - entgegen ihrer Selbststilisierung zur ökologischen Vorreiterin - noch weit davon entfernt, EU-Mindeststandards in ihren Ballungsräumen einzuhalten. 120 deutsche Städte oder Kommunen überschreiten die Grenzwerte für Stickoxide noch immer, wobei diese in 50 Kommunen laut Hendricks nur "wenig über den Standards" lägen und "bald" hinreichend gesenkt werden könnten.[6] In 20 Ballungszentren der Bundesrepublik sei die Umweltbelastung aber so hoch, dass mit einer raschen Einhaltung der Umweltstandards nicht zu rechnen sei: "Das werden wir kaum schaffen," räumt selbst die Bundesumweltministerin ein. In Stuttgart, einem Zentrum der deutschen Autoindustrie, wurden Werte von 82 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter gemessen, die den zulässigen Grenzwert von 40 Mikrogramm um das Doppelte übersteigen. Auch Hamburg, Berlin, die Ballungszentren des Rheinlands und des Ruhrgebiets sowie des Rhein-Main-Gebiets sind hoch belastet. Laut der NGO Deutsche Umwelthilfe sind zehn deutsche Großstädte akut von Fahrverboten für Dieselfahrzeuge, die maßgeblich zur schlechten Umweltbilanz der Bundesrepublik beitrügen, bedroht. Darunter befänden sich München, Stuttgart, Köln, Reutlingen, Hamburg, Heilbronn, Kiel, Düsseldorf, Darmstadt und Ludwigsburg. Dasselbe gelte für Stadtteile von 15 weiteren Großstädten wie Berlin, Dortmund, Frankfurt und Freiburg.[7] In 19 deutschen Ballungszentren haben Umweltschutzorganisationen inzwischen Fahrverbote für Dieselfahrzeuge eingeklagt; von ihnen wären rund 1,4 Millionen Fahrzeuge betroffen.
Brüssel fordert Sammelklagen
Mit Blick auf den massenhaften Betrug und die gesundheitlichen Gefahren der von der deutschen Autoindustrie favorisierten Dieseltechnik, die jahrelang auch durch die Bundesregierung gefördert wurde, sprach sich EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager jüngst für Sammelklagen in der EU aus.[8] Sie sei "ein wenig enttäuscht", erklärte Vestager, dass dieser Rechtsweg noch nicht beschritten worden sei, da "einzelne Verbraucher" gegenüber "gigantischen Konzernen" wie VW "einigermaßen machtlos" seien: "Wie sollen die Leute verstehen, dass ein VW-Kunde in den USA eine Entschädigung bekommt, in der EU aber leer ausgeht?" In Deutschland sterben jedes Jahr rund 80.000 Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung; EU-weit sind es sogar 400.000 Todesfälle.[9]
Deutschland bleibt dieseltreu
In meinungsbildenden Medien wird indes spekuliert, eine Umsetzung von Umweltstandards könne zu einer Regierungskrise führen. Jahrelang hätten kleine Zirkel in Autoindustrie, Bundesregierung und EU-Kommission die Schadstoffwerte sowie Ausnahmeregeln dazu "ausgehandelt", die "den Autobauern nahezu jede Freiheit bei der Auslegung von Schadstoffobergrenzen" gelassen hätten, heißt es.[10] Die Bundesregierung, die über Jahrzehnte die Dieselstrategie der deutschen Autoindustrie europaweit durchsetzte, habe aber nun "keinen Diesel-Plan", sodass am Ende Richter darüber entscheiden könnten, "mit welchen Autos wir künftig fahren". Dies komme faktisch einer "Enteignung" von PKW-Fahrern gleich. Der Proteststurm, der dann losbrechen werde, könne die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD in "echte Bedrängnis" bringen.
Berlins selektive Rechtstreue
Dabei stellt die jahrelange Missachtung von EU-Mindeststandards im Umweltschutz durch Berlin keine Ausnahmeerscheinung dar.[11] Jüngsten Medienberichten zufolge ist Deutschland, das sich gern als "Musterknabe" der Europapolitik aufspielt, eigentlich europäisches Schlusslicht bei der Umsetzung von EU-Normen - gemeinsam mit Spanien. Gegen die Bundesrepublik sind derzeit 74 EU-Vertragsverletzungsverfahren anhängig, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag ersichtlich wird. Die Anzahl der Verfahren sei damit seit 2013 um knapp ein Fünftel gestiegen. Dabei geraten vor allem das Verkehrsministerium, gegen das 20 EU-Vertragsverfahren laufen, und das Umweltministerium mit 16 Verfahren besonders häufig mit EU-Recht in Konflikt.
[1] Brigitte Osterath: Überzeugen Deutschlands Pläne die EU-Umwelt-Kommission? dw.com 30.01.2018.
[2] Im Streit über dreckige Luft droht Deutschland Klage aus Brüssel. spiegel.de 30.01.2018.
[3] Markus Becker: Der lange Bremsweg des dreckigen Diesels. spiegel.de 30.01.2018.
[4] Brigitte Osterath: Überzeugen Deutschlands Pläne die EU-Umwelt-Kommission? dw.com 30.01.2018.
[5] Markus Becker: Der lange Bremsweg des dreckigen Diesels. spiegel.de 30.01.2018.
[6] Im Streit über dreckige Luft droht Deutschland Klage aus Brüssel. spiegel.de 30.01.2018.
[7] Diesel-Fahrverbote: EU erhöht den Druck. nachrichten.at 03.02.2018.
[8] Rheinische Post: Dieselskandal: EU-Wettbewerbskommissarin für Sammelklagen. presseportal.de 10.02.2018.
[9] Matthias Reiche: Ultimatum der EU ist abgelaufen - Klage droht. mdr.de 10.02.2018.
[10] Nikolaus Doll: Die Diesel-Krise könnte zu einer ernsthaften Regierungskrise werden. welt.de 29.01.2018.
[11] EU führt 74 Verfahren gegen Deutschland. n-tv.de 06.02.2018.